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Ein Gebetbuch aus Goßmannsdorf am Main

Seit vielen Jahren befanden sich im Würzburger Zentrum für jüdische Geschichte, dem heutigen Johanna-Stahl-Zentrum, vier alte hebräische Bücher. Als Dauerleihgabe aus dem Staatsarchiv Würzburg wurden sie in der Dauerausstellung präsentiert. Inzwischen sind sie zurückgegeben. Doch nicht ohne eine gründlichere Untersuchung: In zwei Bänden fanden sich dabei Hinweise, dass sie aus Goßmannsdorf am Main stammen, heute ein Ortsteil der Stadt Ochsenfurt am Main. Dies weckte Fragen.

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Bei einem der beiden Bücher handelt es sich um ein Bußgebetbuch für das ganze Jahr. Es umfasst Gebete nach dem Ritus von Venedig und der Gemeinden in Aschkenas, also in Deutschland und darüber hinaus. Es wurde 1813 von der Druckerei Isaak David Zirndorfer in Fürth gedruckt. Die Druckerei war bereits im Jahr 1737 von Chaim Zwi Hirsch gegründet und 1755 von Isaak David Zirndorfer übernommen worden, der sie zur bedeutendsten hebräischen Druckerei Fürths machte. Die Vertiefungen, die die Bleilettern auf dem groben Papier des Buches hinterließen, zeugen bis heute von dem aufwändigen Druckverfahren der damaligen Zeit. Der Einband des Gebetbuchs ist neuer, er stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Stempel auf der rechten Einband-Innenseite weist auf den Besitzer des Buches hin: „I. Saalheimer, Februar 1900, Goßmannsdorf“.

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Das Kürzel steht für Isaak Saalheimer (1835-1911), der 1835 in Kleinsteinach in Unterfranken geboren worden war. Er heiratete im Jahr 1864 Babette Reußenberger (1836-1908) aus Goßmannsdorf. Dort konnte er sich nach der Heirat als Stoffhändler mit eigenem Geschäftshaus erfolgreich etablieren. Das Paar bekam insgesamt sieben Kinder. Von ihnen zogen sechs Ende des 19. Jahrhunderts in größere Städte in Deutschland – sie hätten in dem kleinen Ort kein Auskommen gefunden. Drei Söhne betrieben in Würzburg eigene Tuchhandelsgeschäfte. Die Tochter Klara (1874-1943) blieb hingegen in Goßmannsdorf. Dort lebte sie mit ihrem Ehemann Jakob Mayer (1870-1943) sowie ihren beiden Kindern Max (1902-unbekannt) und Meta (1903-1945). Jakob Mayer führte das von Isaak Saalheimer gegründete Schnittwarengeschäft weiter. Auf dem Foto von etwa 1910 ist die Familie vor dem Geschäft zu erkennen.

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Das Gebetbuch blieb nach dem Tod von Isaak Saalheimer 1911 in Goßmannsdorf. Da Klara Mayer, geb. Saalheimer, am längsten in Goßmannsdorf ansässig war, ist es wahrscheinlich, dass sie oder ihre Familie das Gebetbuch erbten. Im März 1940 musste sie mit ihrem Ehemann den Ort verlassen. Von Würzburg wurde das Ehepaar im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort starben Klara und Jakob Mayer aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen kurz nacheinander im März 1943. Zwei der Geschwister Klaras kamen ebenfalls in der Shoa ums Leben, ein Bruder war bereits zuvor gestorben. Drei Geschwistern gelang es, ins Ausland zu fliehen.

Auch Max, der Sohn von Klara und Jakob Mayer, konnte im Jahr 1938 über Mexiko in die USA emigrieren. Er hatte wie seine Eltern in Goßmannsdorf gelebt. Seine Schwester Meta hingegen hatte bereits im Jahr 1932 nach Frankfurt a.M. geheiratet, wo sie mit ihrem Mann Josef Heymann zwei Kinder bekam. Die Familie konnte 1937 in die Niederlande fliehen. Dort wurden zwei weitere Kinder geboren. Im Februar 1944 wurde die ganze Familie über das Durchgangslager Westerbork in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Dort starb Josef im Februar 1945. Auch Meta Heymann war schwer krank, als sie Anfang April mit ihren Kindern den Transportzug bestieg, der sie aus Bergen-Belsen nach Osten bringen sollte. Sie starb kurz nach der Befreiung durch amerikanische Truppen am 25. April 1945 in Hillersleben. Ihre vier Kinder überlebten die Shoa und kehrten im August 1945 in die Niederlande zurück, wo sie von verschiedenen Pflegefamilien aufgenommen und groß gezogen wurden. Drei von ihnen sind heute noch am Leben.

Das jüngste der vier Kinder der Familie Heymann ist Fanny Heymann in Amsterdam. Das JSZ konnte Kontakt zu ihr aufnehmen und sie über die Existenz des Gebetbuchs ihres Urgroßvaters informieren. Diese Nachricht bewegte Frau Heymann und ihren Bruder Abraham sehr, der in Israel wohnt. Sie haben nur wenige Erinnerungsstücke aus der Familie in Goßmannsdorf.

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Auf welchen Wegen das Gebetbuch Isaak Saalheimers in das Staatsarchiv Würzburg gelangte, ist nur bruchstückhaft zu rekonstruieren. Möglich ist, dass es in der Synagoge in Goßmannsdorf verblieb und 1938/1939 durch die Nationalsozialisten konfisziert wurde – zusammen mit den drei anderen Büchern. Denkbar ist auch, dass die vier Bücher zu der später im Synagogengebäude gefundenen Genisa gehörten, die heute in der Gemeinde Goßmannsdorf verwahrt wird. Auf unbekanntem Weg gelangten die vier Bücher dann jedenfalls nach 1945 aus Goßmannsdorf an das Landratsamt Ochsenfurt. Von hier aus wurden sie nach der Auflösung des Landkreises 1972 mit den Landratsamtsakten an das Staatsarchiv Würzburg abgegeben. Es ist also nicht auszuschließen, dass es sich bei den vier hebräischen Titeln um Raubgut handelt.

Aus diesem Grund schlug das JSZ der Leitung des Staatsarchivs Würzburg 2021 vor, das Gebetbuch aus Goßmannsdorf an die Nachkommen der Familie Saalheimer zurückzugeben. Der Direktor des Staatsarchivs hat seine Bereitschaft zur Restitution erklärt. So ist zu hoffen, dass das Gebetbuch bald seinen Weg in die Familie zurückfindet – als kleine heilende Geste gegenüber den Nachkommen der Saalheimers in den Niederlanden, den USA und in Israel.

Nathalie Jäger, 2021

Quellen und Bildnachweise 

Kraus, Wolfgang/ Dittscheid, Hans-Christoph/ Schneider-Ludorff, Gury (Hgg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III: Unterfranken, T. 1. Erarbeitet von Axel Töllner, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Hans Schlumberger, unter Mitarbeit von Gerhard Gronauer, Jonas Leipziger und Liese Weber, mit einem Beitrag von Roland Flade, Lindenberg im Allgäu 2015, S. 666-680.

Strätz, Reiner, Biographisches Handbuch Würzburger Juden 1900-1945. Mit einer wissenschaftlichen Einleitung von Herbert A. Strauss. Red. Bearbeitung: Hans-Peter Baum u.a., Teilband 2, Würzburg 1989 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 4), S. 496f.

Sammlung Fanny Heymann

Online Archiv der Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org/archive (Suche nach Namen)

Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken, https://www.historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/.

Das Bundesarchiv – Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de .

Joods Monument, https://www.joodsmonument.nl (Suche nach Namen)

Abbildungen:
Abb. 1: Blick in das Gebetbuch aus Goßmannsdorf am Main © JSZ, Foto: Nathalie Jäger, 2020
Abb. 2: Isaak Saalheimer © Fanny Heymann
Abb. 3: Babette Saalheimer © Fanny Heymann
Abb. 4: Geschäftshaus von Isaak Saalheimer mit Jakob Mayer und Klara (geb. Saalheimer) und ihren Kindern Max und Meta, um 1910 © Fanny Heymann
Abb. 5: Das Gebetbuch aus Goßmannsdorf am Main, Außenansicht © JSZ, Foto: Nathalie Jäger, 2020