Fräulein Seligsberger und ihr Porträt
Ihre Karriere war ihr nicht in die Wiege gelegt. Als Ernestine Seligsberger im Dezember 1864 geboren wurde, war ihre kleine und bitterarme Familie gerade erst von Fuchsstadt nach Würzburg gezogen. Endlich, könnte man sagen. Denn ihr Vater Salomon (1831 – 1888) hatte bereits seit langem darauf hin gearbeitet. Doch erst die Aufhebung des sog. Matrikelparagraphen in Bayern 1861 hatte den Umzug möglich gemacht. Bis dahin war der jüdischen Bevölkerung die freie Wohnortwahl verwehrt geblieben.
In Würzburg konnte sich Salomon Seligsberger im Verlauf von 20 Jahren allmählich vom Trödler, Kleiderhändler und Pfandleiher zum Geschäftsinhaber und Antiquitätenhändler hocharbeiten. Gleichzeitig wuchs die Familie, auch zwei unverheiratete Schwestern von Salomon und weitere junge Verwandte lebten im Haushalt. Doch in einem Anfall von Wahn nahm Salomon Seligsberger sich 1888 das Leben – er schnitt sich mit einem Messer die Kehle durch. Die Familie, die jüdische Gemeinde und die Stadt waren geschockt.
Zu diesem Zeitpunkt befand Ernestine sich im heiratsfähigen Alter von 23 Jahren. Ihre ältere Schwester Katilie (1864 – 1942) hatte im Jahr zuvor in die Niederlande geheiratet und gerade ihr erstes Kind bekommen. Nun wäre eigentlich Ernestine an der Reihe gewesen. Doch sie wurde Geschäftsfrau und blieb unverheiratet - der Not gehorchend, denn das Einkommen für die große Familie musste gesichert werden.
Für die Weiterführung des Geschäfts waren ihre Brüder noch zu jung. Die Frauen der Familie, ihre Mutter Bertha (1838 - 1911) und sie, kannten sich hingegen aus. Ernestine dürfte nach dem Besuch der jüdischen Schule von ihrem Vater ausgebildet worden sein. Mutter und Tochter übernahmen das Geschäft – und mehr noch, sie richteten es neu aus. Die Trödelsparte gaben sie an einen Verwandten ab und führten das Geschäft fortan auf einem anderen Niveau als Antiquitäten- und Möbelgeschäft. Sie waren so erfolgreich, dass sie 1897 ein großes Wohn- und Geschäftshaus erwerben und umbauen lassen konnten. Seit dem Einzug 1898 führte die Firma den Namen „S. Seligsberger Ww.“ Mit dem Namen einer Frau benannte man ein Geschäft offenbar nicht. Doch "S. Seligsberger Wwe." bedeutet nichts anderes als Bertha Seligsberger. Der Name blieb bis zum Ende 1938 erhalten.
Sobald Ernestines Brüder Simon (1873 - 1931) und Sigmund (1875 - 1943) alt genug und ins Geschäft mit eingetreten waren, überließ Bertha ihren drei Kindern immer mehr die Geschäfte. 1905 überschrieb sie ihnen die Firma. Sie hatte sie 17 Jahre lang erfolgreich geführt – doch Spuren in den Quellen hat sie kaum hinterlassen.
Über ihre Tochter Ernestine ist etwas mehr bekannt. Sie hatte sich als Expertin für Fayencen profiliert und betreute mit dem Fränkischen Luitpold-Museum, dem Vorläufer des heutigen Museums für Franken, einen wichtigen Kunden vor Ort. Einmal in der Woche soll sie dort gewesen sein. Neben Fayencen kaufte das Museum in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch Plastiken, alte Möbel und Silberwaren. Ungezwungen ging Fräulein Seligsberger mit hochrangigen Kunden, auch internationalen Sammlern um.
Während ihr Bruder Sigmund im 1. Weltkrieg als Soldat eingesetzt war, kümmerten sich Simon und sie um das Geschäft. Doch wenige Jahre nach der Rückkehr von Sigmund zog sich Ernestine Seligsberger nach 35 Jahren aus dem aktiven Geschäftsleben zurück. Sie war knapp 60 Jahre alt und, so ihr Neffe Philip Seligsberger White nach einem Besuch 1923, eine "feine, aristokratische Erscheinung, die gelegentlich mit blitzenden Augen hintersinnige, scharfe Bemerkungen" von sich gab. Finanziell blieb Ernestine als stille Teilhaberin an der Firma beteiligt, auch alle Immobilien besaßen die Geschwister gemeinsam.
Anders als ihre Brüder, die mit Frau bzw. Familie und weiteren Verwandten in oder neben dem Geschäftshaus am Johanniterlatz wohnten, lebte Ernestine in einer Villa an der Hindenburgstraße in einer gewissen Entfernung zu ihnen. Hier sammelte sie genauso wie ihre Brüder das, womit sie sich auch beruflich beschäftigte: Antiquitäten und Kunst. Philipp White konstatiert im Rückblick auf seinen Besuch bei den Würzburger Verwandten 1923: „Ich besuchte alle drei Verwandten während meines Aufenthalts. Jeder ihrer Räume war ein kleines Museum, gefüllt mit Schätzen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen europäischen Ländern, orientalische Teppiche, chinesisches und japanisches Porzellan und andere Stücke.“ Die Sammlung, von der es kein Verzeichnis gibt, verschwand wie so vieles als Teil des großen Raubzuges der Nationalsozialisten.
Gesellschaftlich scheint sich Fräulein Seligsberger eher abseits gehalten zu haben, wird von Zeitzeugen als starke Persönlichkeit, aber auch als harte, sparsame bis geizige Frau beschrieben. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Sigmund engagierte sie sich wohl weder in der Jüdischen Gemeinde noch an anderer Stelle. Weil es sie nicht interessierte? Oder weil sie nicht den Status einer verheirateten Frau genoss? Wir wissen es nicht.
Kurz nach ihrem Rückzug ins Privatleben ließ sich Fräulein Seligsberger malen – und dieses Gemälde blieb in der Familie ihrer Schwester in den Niederlanden erhalten. Seit 2013 befindet es sich in Würzburg. Ihre Groß- und Urgroßnichten und -neffen aus der Familie Frenkel wollten das Gemälde nach einer Restaurierung gerne abgeben. Denn nun war der Name des Malers sichtbar geworden. Und es kam ans Licht, dass sich der ihnen bislang nicht bekannte Willy Exner (1888 - 1947) nach dem Porträt für Ernestine von 1925 als Porträtist mehrerer Nazi-Größen einen Namen gemacht hatte. Die Familie Frenkel hingegen hatte schwer unter der Judenverfolgung der NS-Besatzer in den Niederlanden zu leiden gehabt. Die meisten Familienmitglieder waren deportiert und Ernestines Neffe Salomon Philip Frenkel mit seiner Frau Betsy ermordet worden. Ihre Kinder hatten lange im Versteck leben müssen.
Es ist anzunehmen, dass Ernestine Seligsberger den Maler, der erst seit wenigen Jahren in der Region lebte, aus beruflichen Zusammenhängen kannte. Vielleicht hatte er sie kontaktiert, um eine Geschäftsverbindung anzuknüpfen – vielleicht bot er ihr einen sehr günstigen Preis. Denn schließlich verkaufte die Firma Seligsberger auch Gemälde. Das Bild ist als traditionelles bürgerliches Ölporträt im realistischen Stil komponiert, seine konservative und handwerklich solide Machart verfügt über keine herausragenden künstlerischen Qualitäten.
Sein Wert liegt vielmehr in der Erinnerungsfunktion. Denn ohne das Gemälde bliebe uns der lebendige Eindruck von einer starken, erfolgreichen, menschlich jedoch eher kühlen und scharfzüngigen Frau vorenthalten. Zudem hat es eine Ausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum und im Mainfränkischen Museum mit umfangreichen und überraschend ergiebigen Recherchen angestoßen – nicht zu sprechen von der faszinierenden Dynamik in der heutigen Familie Frenkel, sich mit der Geschichte und dem kulturellen Erbe der Vorfahren zu befassen.
Wie und wann das Gemälde allerdings in die Niederlande kam, ist nicht bekannt. Erhalten blieb es im Haus eines Sohnes von Katilie Frenkel, der Schwester Ernestine Seligsbergers. Diese war Anfang 1942 gestorben. Es könnte also sein, dass Ernestine ihrer Schwester, die sie nur sehr selten sah, das günstig erworbene Ölporträt geschenkt hatte. Ein Besuch von ihr in den Niederlanden ist möglich, aber nicht sicher. Ihre Brüder reisten jedoch häufiger zu den Verwandten.
Als Ernestine Seligsberger 1939 starb, war sie die letzte der Familie in Würzburg: ihr Bruder Simon lebte schon seit acht Jahren nicht mehr und Sigmund war mit seiner Familie in die Niederlande geflohen. Von dort wurde er mit seiner Frau 1943 deportiert und ermordet, das Leben seines Sohnes Ernst endete bereits 1942 in Auschwitz. Die Firma „S. Seligsberger Ww.“ am Johanniterplatz, ein deutschlandweit renommiertes Antiquitäten- und Möbelgeschäft, hatte Sigmund Seligsberger 1937/38 schließen, aufteilen und unter Druck an neue Besitzer verkaufen müssen.
Die Grabinschrift Ernestines auf dem jüdischen Friedhof in Heidingsfeld nimmt noch einmal Bezug auf die beiden Frauen, die die Firma groß gemacht hatten. Denn es wird nicht, wie üblich, der Name des Vaters der Verstorbenen dort angegeben, sondern der ihrer Mutter Bertha. Das dürfte Ernestine Seligsberger am Ende ihres Lebens selber so bestimmt haben. Dazu passt, dass ihr Grab in einer schmalen Lücke neben dem ihrer Mutter seinen Platz fand. Schade, dass es nicht auch von der Witwe S. Seligsberger ein Porträt gibt. Denn auch sie war eine starke Frau.
Rotraud Ries, 2021
Literatur und Bildnachweise
Rotraud Ries (Hg.), Seligsberger - Eine jüdische Familie und ihr Möbel- und Antiquitätenhaus. Begleitpublikation zur Ausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum und im Mainfränkischen Museum Würzburg, 28.10.2015 - 18.03.2016. Unter Mitarbeit von Nina Gaiser, Bettina Keß und Claudia Lichte, Würzburg 2015; dort auch die Nachweise für die Zitate aus dem ungedruckten Tagebuch von Philip White.
Abbildungen (von li. oben nach re. unten)
1. Geburtseintrag für Ernestine Seligsberger, 24. Dez. 1864, Jüdisches Standesregister Würzburg Dompfarrei © StAW Jüdische Standesregister 159, S. 48
2. Grabstein von Salomon Seligsberger auf dem Israelitischen Friedhof in Heidingsfeld. Foto: Rotraud Ries, 2015 © JSZ (die bis 2016 auf dem Kopf eingesetzte Inschriftentafel ist inzwischen gedreht worden)
3. Das Antiquitäten- und Möbelhaus Seligsberger Ww. am Johanniterplatz, vor 1929 © WVV Archiv Würzburg
4. a – d Fayencen im Museum für Franken, gekauft bei Seligsberger: a. Untertasse der sog. „Grünen Familie“, Fayencemanufaktur Ansbach, 18. Jh., Inv.Nr. A 9449, Fotoarchiv; b. Sitzender Knabe mit Birnen. Steingutmanufaktur Damm, um 1860, Fotoarchiv; c. Deckeldose in Form einer Zitrone, Fayencemanufaktur Höchst a.M., Mi. 18. Jh., Foto: Katja Krause; d. Nürnberger Fayencen, Nürnberg um 1750, Terrine von Seligsberger gekauft, Foto: Rolf Nachbar © Museum für Franken
5. Reklamemarke für das Möbelhaus Seligsberger, 1920. Grafik: Willy Wolff © JSZ
6. Ganzseitige Anzeige der Firma S. Seligsberger Ww. auf der Rückseite eines Schlossführers, 1928 © Geschichtswerkstatt Würzburg, Alexander Kraus
7. Ernestine Seligsberger, Gemälde von Willy Exner, Öl auf Lw., 1925. Foto: Anne Genkel, 2015 © JSZ
8. Salomon Philip und Betsy Frenkel mit ihren drei Töchtern (v. li.) Tilie, Tineke und Corrie vor dem Haus der Familie in Bentveld, 1929. © Corrie Schogt-Frenkel
9. a – b Die Ausstellung „Seligsberger – Eine jüdische Familie und ihr Möbel- und Antiquitätenhaus“ im Johanna-Stahl-Zentrum, 2015 © JSZ, Foto: Rotraud Ries
10. Betsy Frenkel mit Corrie auf dem Arm, daneben Ernestine Seligsberger und vorne die kleine Ernestine (Tineke) Frenkel, 1928 © Anna de Voogt
11. Zu Besuch in Holland bei Katilie Frenkel (2. v. li.): Sara Seligsberger, Katilie Frenkel, Ernst Seligsberger, Maria und Simon Seligsberger, ca. 1929. © Corrie Schogt-Frenkel